Lingotto – der im Südosten gelegene Stadtteil von Turin. Einst geprägt vom Fiat-Konzern. Das einstige Fabrikgelände mit einer Teststrecke auf dem Dach ist heute Einkaufszentrum, Hotel, Kino, grüne Oase, Kunstort. Pista 500 und Pinacoteca Giovanni e Marella Agnelli sind mein heutiges Ziel. In 28 Meter Höhe mit Blick über Turin und auf die Alpen will ich die Teststrecke umrunden, mich auf Kunst und Natur einlassen.
Pista 500 – Von der Fiat-Teststrecke zum kulturellen Hotspot
Infos zum Besuch
Adresse
Pinacoteca Agnelli
Lingotto, Via Nizza, 230/103, 10126 Torino
Öffnungszeiten
Dienstag bis Sonntag
10:00 Uhr bis 17:30 Uhr: Pista 500
10:00 Uhr bis 19:00 Uhr: Agnelli-Kunstsamlung
Tickets
online oder direkt vor Ort
2,10 Euro: Pista 500
10,60 Euro: Agnelli-Kunstsammlung
Spazierend lernt man die Stadt am besten kennen, denke ich. Dass der Weg zum einstigen Fiat-Fabrikgelände so weit vom Zentrum entfernt liegt, habe ich nicht bedacht. Ich laufe am Ufer des Po entlang, mache einen Abstecher zum mittelalterlichen Dorf, durchquere einen Park. Und dann sehe ich auch schon das ehemalige Fabrikgebäude. Fünfhundert Meter Fassade, fünf Geschosse Fenster, Stahlbeton.
Ein gläserner Aufzug in einem der beiden früheren Auffahrtrampen bringt mich nach oben. Das Ticket (Eintritt 2 Euro) hatte ich bereits vorab online geordert. Ich betrete das Dach vom nördlichen Zugang her. Vor mir der etwa ein Kilometer lange Rundkurs aus den 1920er und 1930er Jahren, 27.000 Quadratmeter groß. Etwa in der Mitte wurde eine Glaskugel inklusive Hubschrauberlandeplatz gesetzt. Beeindruckend! Für das Sanierungsprojekt war der Architekt Renzo Piano verantwortlich.
Kunst trifft Natur
28 grüne Inseln bestimmen seit 2001 das Bild der Dachterrasse. 40.000 Exemplare von 300 verschiedenen einheimischen Pflanzenarten blühen, wachsen, duften, wiegen sich im Wind, bieten Insekten und Vögeln Lebensraum. Seit 2022 treten knapp 20 wetterfeste Kunstwerke in Dialog mit der Natur: Audioinstallationen, Digitaldrucke, Licht- oder Klangarbeiten, Videos, Skulpturen.
Es ist Ende September. Die Sonne flirrt auf dem Asphalt. Außer mir sind nur wenige andere Besucher*innen hier.
Nach dem ersten Wow-Effekt wende ich mich der nördlichen Steilkurve zu. Vietato l‘accesso – betreten verboten – höre ich einen der Aufseher rufen. Bei gefühlt 25 Grad schützt ihn nur ein einfacher Sonnenschirm vor der gleißenden Sonne. Ich bleibe im unteren Teil der Kurve, um mir das 2,7 mal 155 Meter große Werk Pistarama (2023) anzusehen, das Dominique Gonzales-Foerster extra für die Nordkurve angefertigt hat. Eine monumentale Collage: Politische und kulturelle Geschichte Turins, Episoden und Figuren, historische und fiktive Charaktere, Kunstwerke, Dokumente, Fotografien, filmische Referenzen – all dies ist bildet die Collage ab.
Ich gehe weiter, genieße das Farbspiel der Pflanzen und Sträucher. Gräser bewegen sich sanft im Wind. Die grünen Insel ziehen sich in geschwungen Bahnen um die Strecke. Ich bleibe stehen, beuge mich etwas über die Kante und schaue in die begrünten Innenhöfe, blicke über Turin, sehe bis zu den Alpen.
In einem Steinbett liegen Marmorlöwen. The Guardians (2022) eine Installation von Nina Beier. Entmachtete Löwen. Ihrer Funktion als architektonischen Schmuckstücken an Denkmälern, Gebäuden beraubt. Ruhen Sie sich aus?
Aus einer der grünen Insel tönen Geräusche. Birdcalls (1972 bis 1981). Eine Arbeit der jungen Louise Lawler. Eine Stimme spricht die Namen von 28 renommierten Künstler*innen als wären sie der Lockruf von Vögeln. Richard Artschwager, John Baldessari, Joseph Beuys, Enzo Cucchi, Gilbert and George, Dan Graham, Donald Judd, Anselm Kiefer, Sol Lewitt, Sigmar Polke, Gerhard Richter.
An der südlichen Steilkurve hängt die Videoinstallation Beneath My Feet Begins to Crumble (2022) von Mark Leckey. Auch diese Installation wurde extra für die südliche Parabelkurve geschaffen. Sie erinnert an die Screens in Stadien oder bei Popkonzerten. Durch Heranzoomen und Vergrößern des Geschehens, Zeitlupen oder Wiederholungen wird das Live-Geschehen noch attraktiver. In Leckeys Werk ist die Alpenkette die Protagonistin. Die Berge auf Leinwand gebannt. Sie durchlaufen eine Reihe von Transformationen. Sie deuten die Möglichkeit an, dass Berge das Ergebnis technischer Konstruktion sind. Ähnlich den Automobilen, die einst in der Fabriken hergestellt wurde.
Vor dem Eingang zum Gebäude steht die Bronzeskulptur „Die Doppelgängerin“ (2022) von Valie Export. Zwei riesige, miteinander verschlungene Scheren ragen in den strahlend-blauen Himmel.
Agnelli-Kunstsammlung: Klein und fein
Ich betrete das Gebäude, in der sich die Agnelli-Kunstsammlung und das Casa 500 befindet. Letzteres erzählt die Geschichte des Fiat 500. Sie interessiert mich nicht besonders, obwohl ich Fan des aktuellen 500 bin. Hätte ich ein Auto, wäre es dieses. 🙂
Zurück zum Thema. Ich besuche stattdessen die Pinacoteca Giovanni e Marella Agnelli. Klein aber fein: 23 Gemälde, 2 Skulpturen. Begrüßt werde ich von einem Werk Giacomo Ballas (1871-1958): „Velocità astratta“ aus dem Jahr 1913. Abstrakte Geschwindigkeit – wie passend an diesem Ort.
Hinter dem Gemälde öffnet sich der (einzige) Ausstellungsraum. Querwände teilen den Raum. White Cube mit etwas Holz. Schlicht, edel, entspannte Atmosphäre. Ich mag Ausstellungen mit wenig Gewusel, wo ich Platz zum „Flanieren“ habe, ich die Kunstwerk lange und aus verschiedenen Perspektiven wirken lassen kann. Wenige Arbeiten, dafür von herausragenden Künstler*innen: Giambatista Tiepolo, Pablo Picasso, Henri Matisse, Bernardo Bellotto, Canalletto.
Regelmäßig finden in der Pinakothek auch Sonderausstellungen statt. Die temporären Ausstellungen konzentrieren sich auf Projekte, die speziell für die Räume der Pinakothek konzipiert und produziert werden: Monografische Ausstellungen, die zeitgenössischen Künstlern gewidmet sind sowie kollektive Ausstellungen. Noch bis zum 2. April ist die monografische Ausstellung von Thomas Bayerle, Form Form Superform zu sehen.
Beschwingt verlasse ich die Sammlung und die Pista 500. Der gläserne Aufzug bringt mich zurück ins Erdgeschoss und ins Turiner Leben.
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