Dolce vita – Welches dolce vita?

Dolce vita. Welches dolce vita. Fast bildfüllend ist der Vierströmebrunnen auf der Piazza Navona in Rom zu sehen
Der Vierströmebrunnen in Rom

[Update 21. Februar 2024]

Che dolce vita – welches dolce vita? Die Frage ist etwas provokant gestellt. Was versteht man unter dolce vita? Existiert ein dolce vita in Italien überhaupt oder entspringt es dem deutschen Sehnsuchtsgedanken? Wortwörtlich übersetzt heißt dolce vita süßes Leben. Gemeint ist damit geselliges Beisammensein, Lässigkeit, Lockerheit, Müßiggang.

Film La dolce vita

Hand hoch. Wer kennt die Szene nicht? Marcello Mastroianni (1924 bis 1996) und Anita Ekberg (1931 bis 2015) durchschreiten nach einer Party in Abendgarderobe den Trevibrunnen in Rom (bitte NICHT nachmachen!). Die Szene ist aus dem Film „La dolce vita“ des Regisseurs Federico Fellini (1920 bis 1993) aus dem Jahr 1960. Auf diesen Film(titel) geht der heute so häufig genutzte – klischeehafte – Begriff zurück.

In dem 180-Minüter geht es um das Leben der römischen „High Society“ der 50er Jahre. Er beschreibt eine Welt des ausschweifenden Lebens, des dolce vita. Eine Welt der inneren Leere. Die handelnden Personen sind unfähig echte menschliche Beziehungen aufzubauen, empathisch zu sein. Lässig, lebensfroh, lebensbejahend ist wenig in der Tragikomödie.

Dolce vita ist Vieles

Dolce vita „muss“ für Vieles herhalten. Ich habe den Begriff in eine Suchmaschine eingegeben. Als Ergebnis bekam ich angezeigt: Restaurants, Geschäfte, Parfüms, Matratzen, Hotels, Rosen, Glaswaren, Espressomühlen. Eine samstäglich Radiosendung beim Hessischen Rundfunk lautet Dolce Vita und auch die FAZ titelte kürzlich „Dolce Vita elettrica“ als sie zwei neue Fiat-Modelle vorstellte.

Dass die Lebensart der Italiener und Italienerinnen ein dolce vita ist, ist eine weit verbreitete Meinung – von Deutschen. Es ist das Bild der Deutschen von Italien, wenn sie dort zwei Wochen im Urlaub sind und dem süßen Nichtstun frönen. Die Lebenswirklichkeit sieht ganz anders aus.

Werfen wir einen Blick in den italienischen Alltag

Viele Italienerinnen und Italiener nehmen lange Fahrzeiten in Kauf nehmen, um zur Arbeit zu gelangen. Wohnraum ist knapp – auch infolge der unzähligen Airbnbs. Der wenige wird immer teurer. Mit ein Grund, weshalb viele junge Italienerinnen und Italiener lange bei den Eltern leben. Eine eigene Familie gründen? Schwer möglich. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch.

dolce vita. Häuserfront mit davor einer aufgespannten Wäscheleine. Daran verschiedene Wäschestücke
Beliebtes Fotomotiv: Wäsche, die an der Leine und an der Straße getrocknet wird

Wohnverhältnisse

Hast du schon mal die touristischen Pfade verlassen? Wenn du durch die ärmeren Viertel von Mailand, Turin, Neapel oder Rom läufst, wirst du sehen, dass das Leben dort alles andere als ein dolce vita ist. Einfache, teils etwas heruntergekommene Hochhäuser säumen die Straßen. Die Wäsche hängt draußen vor den Fenstern inmitten der Autoabgase. Sie hängt dort nicht, um deutschen Touristinnen zu gefallen. Sie hängt dort, weil sich die Familien keinen Trockner leisten können oder es in der Wohnung keinen Platz zum Trocknen gibt. Vor den Häusern stehen klapprige Motorroller oder Autos im kleinen Format.

Che dolce vita? Knapper Wohnraum!

Verkehrssituation

Morgens geht es Stoßstange an Stoßstange zur Arbeit. Die Menschen stehen dicht gedrängt in U-Bahn, Bus oder Tram. Es ist heiß. Die Luft ist stickig. Am Abend dasselbe Spiel zurück. Dazwischen acht Stunden Arbeit und ein (schnelles) Mittagessen. Stress und Hektik gibt es auch im italienischen Berufsalltag. Nach der Arbeit Einkaufen, Kinder, Haushalt, Abendessen – für Singles eventuell noch ein aperitivo.

Che dolce vita? Alltagsstress!

(Jugend-)Arbeitslosigkeit

Die Arbeitslosenquote liegt bei 7,36 %. Die Jugendarbeitslosigkeit ist noch höher (21,3 %) – auch im Norden. Viele suchen ihr Glück im Ausland. Wer bleibt, gibt sich mit schlecht bezahlten Jobs zufrieden oder hat gar mehrere parallel. Das Erwerbseinkommen auf der Apenninenhalbinsel gehört zu den niedrigsten unter den industrialisierten Ländern. Feste Anstellungsverhältnisse? Gibt es nicht immer. Die Schattenwirtschaft floriert.

Che dolce vita? Über die Runden kommen!

dolce vita. türkisfarbener Tisch auf einem steinigen Strand. Daruf liegt links ein bläuliches Buch mit einer Brille darauf. Daneben steht ein volles Glas Sekt und daneben kleine Schälchen mit Oliven, Nüsschen und Chips
Aperitivo am Strand

Klischee

Wir Touris, die wir im Urlaub alle Zeit der Welt haben, können die Seele baumeln lassen. Wir können stundenlang in einem Café sitzen, über Plätze schlendern, uns an malerischen, engen Gassen erfreuen, in der Sonne liegen und uns am Abend an den gedeckten Tisch setzen. Und die Italienerinnen und Italiener? Für sie existiert das „süße Leben“ nicht (mehr). Fraglich, ob es jemals existiert hat. Das dolce vita und das damit einhergehende dolce far niente (süßes Nichtstun) ist die Vorstellung der Deutschen vom italienischen Leben und hat so rein gar nichts mit der Lebensrealität zu tun.

Das Land, wo die Gold-Orangen glühn

Italien ist ein wunderschönes Land. Seit ich dort für einige Zeit gelebt habe, fühle ich mich Land und Leuten sehr verbunden. Deshalb investiere ich auch viel Zeit in dieses Blog.

Italien ist aber auch ein ganz normales Land, mit vielen angenehmen und mit schattigen Seiten. Das wird in deutschen Köpfen oft vergessen.


Canzone – Das Lied zum Beitrag

Mein Liedauswahl fiel auf „La dolce vita“ von Nino Rotta aus dem gleichnamigen Film.


Ich hoffe, dir, liebe Leserin, lieber Leser hat der Artikel gefallen! Über deine Meinung in den Kommentaren freue ich mich sehr. Du bist neugierig geworden den Film La dolce vita zu sehen? Bei Amazon kannst du ihn dir ausleihen oder kaufen.

Leser-Interaktionen

Kommentare

  1. Stefania meint

    Als Italiener, der aber im Ausland lebt, kann ich jedoch sagen, dass das Leben in Italien auch anstrengend ist. Nicht nur Dolce Vita. Auch im Sommer. Ich sehe ständig “Dinge”, die mich ärgern, wie Löcher in den Straßen, baufällige Gebäude, Müll, holprige Straßen (nicht im Stadtzentrum), Autos in zweiter und dritter Reihe, wenige oder keine Einrichtungen für Behinderte und noch viel mehr. Das macht mich wütend, denn die Bürger zahlen eine Menge Steuern genau wie in Deutschland (aber leider nicht alle). Für mich liegt das Dolcevita in der Schönheit vieler Städte, den abwechslungsreichen Landschaften, der Offenheit der Menschen, der Güte des Essens, das serviert oder gekauft wird. Ob arm oder reich, jung oder alt, jeden Tag gönnt sich der Italiener diese “20′ oder 60′ dolcevita” per Tag für sich selb … an der Bar im Zentrum mit einem demokratischen Espresso für einen Euro, eine Piadina oder eine Scheibe Wassermelone am Kiosk in der Nachbarschaft, ein Bier, ein Spritz, eine Pizza al taglio oder ein Panino mit Porchetta beim Gratiskonzert auf dem Dorfplatz, eine Frittura in dem kleinen Restaurant an der Stabilimento, ein Gelato an der Riviera. Das ist die dolce vita, das es in Italien heute noch gibt. Schön, aber kurz. Ansonsten ist es, was mich betrifft, überhaupt kein Dolce Vita. Bevor ich im Ausland lebte, erschienen mir all die genannten negativen Dinge normal. Die habe ich nicht wirklich gesehen oder einfach tolleriert. Aber Italien es ist nicht nur “dolce vita, pizza, mare & mandolino”. Es ist viel viel mehr. Das Thema ist groß und “complesso”. Die Frage “che dolce vita?” ist aber richtig. Sehr gute Frage!

    • Ulrike meint

      Liebe Stefania,
      ich stimme dir völlig zu, dass es ganz viele „Dolce-Vita-Momente“ gibt. Diese sind wirklich sehr schön und ich schätze sie sehr.

      Mir ging es darum aufzuzeigen, dass eben – so wie du auch geschrieben hast – Italien nicht nur Dolce Vita ist. Ich habe manchmal den Eindruck, dass viele Deutsche eine verklärte Vorstellung von Italien haben. Das dem nicht so ist, das wollte ich aufzeigen. Ein sehr komplexes Thema.

      Un caro saluto
      Ulrike

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