Kooperation
Samstagvormittag, die Sonne lacht, der Himmel strahlt azurblau, und ich laufe mit einer Freundin zu den Fondamente Nuove am nördlichen Teil Venedigs. Wir sind dort mit Martina Raehr und ihrem Mann Stefano verabredet, um einen Ausflug auf die Insel Sant’Erasmo zu unternehmen. Auf die Idee brachte uns das Buch von Petra Reski, „Als ich einmal in den Canal Grande fiel“. Bisher kannte ich vor allem Venedigs Kunst- und Kulturschätze und die Biennale. Vom Lebensraum Lagune wusste ich sehr wenig.
Martina ist anerkannte Naturführerin und Reiseleiterin. Unter dem Motto „Venedig natürlich Slow“ führt sie überwiegend deutschsprachige Tourist*innen zu Fuß oder mit dem Rad durch Venedig und Mestre, in die Lagunen, an die Küste oder in die nähere Umgebung. Alles entschleunigt, im Einklang mit der Natur. Genau meins.
Inhaltsverzeichnis
Slow Travel in Venedig: Ein Ausflug auf die Insel Sant‘Erasmo
Mit dem Vaporetto durch die Lagune Venedigs
Von Fondamente Nuove bringt uns das Vaporetto der Linie 13 in gut 30 Minuten nach Sant‘Erasmo. Nicht nur wir sind auf die Idee gekommen, sondern auch viele andere, überwiegend italienische Ausflügler*innen. Das Vaporetto durchpflügt sanft das Wasser, der Bug schäumt Gischt auf, Möwen begleiten uns ein Stück und drehen wieder ab, der Fahrtwind streicht durchs Gesicht. Martina erzählt, wie es zu „Venedig natürlich Slow“ kam und über ihr Leben in Italien.
Wir halten in Murano. Die Insel ist bekannt für ihre Glasbläserarbeiten. Von dort geht es weiter nach Burano, Vignole und Lazzaretto nuovo – eine Insel, die während der Pestepidemie von 1576 zum Zwangsaufenthaltsort für Menschen wurde, die sich möglicherweise mit der Krankheit angesteckt hatten. Heute kann Lazzaretto nuovo auch besichtigt werden. Schließlich erreichen wir die erste Haltestelle auf Sant’Erasmo, Capannone. Wir fahren allerdings noch eine Station weiter, ins Zentrum der Insel, bis Sant’Erasmo Chiesa. Direkt gegenüber der Anlegestelle steht ein helles Gebäude, die Chiesa Cristo Re, eingerahmt von flachen Inselhäuschen. Mein Blick wandert weit zur nördlichen Lagune, in der Ferne sehe ich Burano, ein Flugzeug, das in den Himmel steigt – und Weite. Die Luft ist klar, es riecht nach Erde und Meer.
In einer anderen Welt
Gleich neben der Kirche biegen wir ab in die Via dei Spioni und beginnen unseren Spaziergang auf der gut drei Quadratkilometer großen Insel, zunächst auf schmalen Straßen, später immer an der Küste entlang. Sofort wird klar: Sant’Erasmo ist das Kontrastprogramm zum trubeligen, die visuellen Sinne fordernden und touristischen Venedig.
Wir entdecken eine komplett andere Welt. Alles, was wir in den vergangenen Tagen in Venedig erlebt haben, scheint weit weg. Es ist dörflich, friedlich. Fast könnte man meinen, wir seien in einem Dorf auf dem Festland. Die Häuser sind schlicht, manche mit Balkon und andere mit Garten. Alles ist luftig und mit Abstand zueinander gebaut, es gibt sehr viel Grün. An einem Gartenzaun lehnt ein Fahrrad, in Venedig sind Fahrräder strikt verboten. Auf dem Platz steht ein in die Jahre gekommenes Karussell. Es herrscht eine unglaubliche Ruhe und entspannte Atmosphäre. Nur wenige Menschen sind unterwegs. Ab und an hört man das Knattern einer Ape, das typisch italienische dreirädrige Rollermobil.
Sant’Erasmo – der Garten Venedigs
Gemüsefelder und Wiesen erinnern daran, dass diese größte Insel in der Lagune vor Venedig einst vor allem der Versorgung der Stadt mit Gemüse diente. Berühmt sind die spareselle – grüner, ganz dünner Spargel – sowie die castraure di Sant’Erasmo, junge, zarte, fleischige Artischocken mit der für sie charakteristischen violetten Farbe. Jedes Jahr findet hier das Artischockenfest „Festa del carciofo Sant’Erasmo“ statt, wo es Artischocken in allen möglichen Ausführungen gibt.
Links von uns liegen Salzwiesen, rechts von uns Wiesen, Gemüsefelder und Obstplantagen. Zurzeit herrscht extremes Niedrigwasser. Pinien, Pappeln und Sträucher säumen unseren Weg. Wir riechen an einigen der Pflanzen, und Martina erklärt uns die Fauna und Flora. Noch ist die Natur im Aufbruch. Wie schön muss es erst sein, wenn alles blüht und wächst. Ich schau mich um und frage mich, auf welcher Wiese wohl die Szene der Geburtstagsfeier im Film „Pane e Tulipani“ (Brot und Tulpen) gedreht wurde. Erinnerst du dich an die Geburtstagsfeier im Grünen? Ein Picknick, Rosalba spielt auf dem Akkordeon – eine Szene auf Sant’Erasmo.
Wir erfahren von Martina, dass Salzwiesen an flachen, strömungsarmen Küsten entstehen, indem sie regelmäßig bei Hochwasser überschwemmt werden. Sie sind der natürliche Übergang vom Land zum Meer. In den Salzwiesen wachsen zahlreiche Pflanzenarten und es tobt das tierische Leben! Rund 100 verschiedenen Arten bieten die Salzwiesen einen Lebensraum. Sie sind ein wichtiges Brutgebiete für viele Vögel: Austernfischer, Stelzenläufer, Rotschenkel, Flamingos, verschiedene Mövenarten. In den vergangenen 100 Jahren sind über 60 % durch Erosion verlorengegangen.
Immer wieder schweift mein Blick hinüber zu den anderen Inseln, etwa zur Halbinsel Cavallino, zur Strandinsel Secca del Bacán, zu Le Vignole, Treporti und den Lido. Dazwischen ist das monströse Sturmflutsperrwerk Mose zu erkennen. Die Halbinsel Cavallino war 1966 überschwemmt und mit ihr ein Großteil der Pfirsichbäume, erzählt Martina. Sie erzählt auch von den Fischfarmen in der nördlichen Lagune und der jahreszeitlichen Wanderungen. Bestimmte Fische wie Seebarsche, Doraden und Meeräschen schwimmen im Frühling in die Lagune rein und im Winter raus. Von dieser Wanderung profitieren die Fischfarmer.
Steckmuscheln als Zeichen für sauberes Wasser
Am Ende unserer Tour zeigt Martina uns noch Steckmuscheln (Pinna nobilis) aus nächster Nähe. Sie stehen unter Naturschutz und dürfen nicht mehr gefangen werden. Ihr Gehäuse steckt unten im Sediment und das hintere, obere Ende ragt aus dem Sediment heraus. Wo sie sind, ist sauberes Wasser, erklärt uns Martina. Später erfahre ich von meinem Mailänder Freund, dass aus den feinen Fäden der Steckmuschel, der Muschelseide, bis ins 19. Jahrhundert hinein hochwertige Stoffe gefertigt wurden.
Eh wir uns versehen sind wir drei Stunden unterwegs und es war keinen Moment langweilig. Gerade als unser Hunger immer größer wird, sehen wir mitten im Feld die „Ape Verde Pistacchio – pizzeria siciliana“ (in der Nähe der Haltestelle Capannone). Hier werden leckere Pizzen gezaubert – und ein Bier gibt’s auch noch!
So endet ein herrlicher Samstagvormittag. Ich habe wahnsinnig viel über die Lagune und ihren schützenswerten Lebensraum erfahren. Mir schwirrt der Kopf von all den Geschichten. Es hat sich sehr gelohnt, und ich kann Martina als Begleiterin nur wärmstens empfehlen. Schau doch mal auf ihrer Seite vorbei. Sie bietet viele verschiedene Touren in und um Venedig an.
PS: Mein Hoteltipp in Venedig ist die Unterkunft Locanda Al Leon*. Ich war schon mehrmals in Venedig vor allem zur Kunstbiennale und bin immer dort abgestiegen. Familiär, hübsch, sauber, sympathisches Personal und (für meine Interessen/Vorhaben) günstig gelegen. Anreise über den Canal Grande mit WOW-Effekt. Versprochen.
*Wenn du über diesen Link das Hotel buchst, bekomme ich ein paar Cents. Nicht viel. Mich freut’s dennoch und du hast keine Nachteile.
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Interview mit Petra Reski über Venedig und den Overturism, Journalismus, Schriftstellerei und ihren Blick auf Deutschland.
Meine Buchbesprechung „Als ich einmal in den Canal Grande fiel”
Slow Travel in der Franciacorta
Bärbel meint
Liebe Ulrike, Dankeschön für die tollen Tipps. Ich habe gerade den Flug gebucht…
Viele Grüße
Bärbel
Ulrike meint
Gerne, liebe Bärbel.
Wünsche dir eine tolle Zeit auf Sant’Erasmo und in Venedig.