Preview in Bad Soden: Rapito/Die Bologna-Entführung

Preview in Bad Soden: Rapito/Die Bologna-Entführung
Im Auftrag von Papst Pius IX. (Paolo Pierobon, Mitte) wird der junge Edgardo Mortara (Enea Sala) im Alter von sechs Jahren aus seiner Familie entführt. © Pandora Film, Foto: Anna Camerlingo

Das Arthouse-Kino ist ausverkauft. Das Publikum: Deutsch- und Italienisch Sprechende. Die Menschen stehen an der Theke, in den Gängen, vor der Bühne. Unterhalten sich. Zum kühlen Getränk gibt es Foccacce und süße Teilchen – köstlich zubereitet vom Cafè Primavera. Einige haben es sich in den roten Samtsesseln bereits bequem gemacht.

Gespräche, Getränke und eine Kleinigkeit zu essen vor dem Film, sind das Besondere an der Reihe Cinema Italiano, die von Stefania di Michele in Kooperation mit dem Kino CasaBlanca in Bad Soden organisiert wird. Jeden Monat! Ein italienischer Film. Im Original mit Untertitel. Außer im August, da ist Ferienzeit. Zu diesen italienischen Kinoabenden gehört immer eine zweisprachige Moderation. Eine Videobotschaft, ein Interview, O-Töne, der im Film Beteiligten runden das Vorprogramm ab.

Exklusive Preview

Der heutige Abend, 29. Oktober 2023, sticht etwas hervor aus den anderen Abenden. Es gibt eine Preview, ermöglicht vom deutschen Verleiher Pandora Film Verleih: Rapito, ein Film des renommierten Erfolgsregisseurs Marco Bellocchio. Ich erinnere nur an die Filme Il Traditore (meine Besprechung), Vincere oder Buongiorno notte (Buongiorno, notte – Der Fall Aldo Moro). 

Protagonist des heutigen Films ist ein Kind. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Kind eine wichtige Rolle in Bellocchios Filmen hat: Denken wir an das Kind Massimo in Fai bei sogni (Träum was Schönes). Eine Parallele gibt es auch zum Film Buongiorno notte und der Fernsehserie Esterno notte: Eine Entführung.

Auf einer Bühne sitzend das Moderationsteam: Organisatorin Stefania di Michele und Ulrike Schmid
Moderationsteam: Organisatorin Stefania di Michele und Ulrike Schmid

Moderation in zwei Sprachen

Für mich ist der Abend auch deshalb besonders, weil ich komoderiere. Neuland für mich. Auf der Bühne. Im Rampenlicht. Stefania hat als Organisatorin den Hauptpart. Ich bin für den deutschen Teil zuständig. Wir geben abwechselnd eine Einführung zum Film

Der Film ist aktuell. Die Uraufführung fand beim diesjährigen Cannes-Festival statt. Dramatisch erzählt er eine wahre Geschichte, inspiriert vom Buch „Il caso Mortara“ des italienischen Journalisten und Schriftstellers Daniele Scalise.

Wir befinden uns im Jahr 1858 in Bologna, das damals noch zum Kirchenstaat gehörte. Ein jüdisches Kind wird entführt und in den Vatikan gebracht, um dort nach einem katholischen Ritus (erneut) getauft zu werden. Der Fall zieht internationale Kreise und wird zu einer politischen Angelegenheit. Sie ist mit der Einnahme Roms und dem Ende der weltlichen Macht der Päpste verknüpft. Pius IX. ist der amtierende Papst.

und zeigen Ausschnitte aus einem Videointerview, das uns Pandora Film Verleih zur Verfügung gestellt hat. Ausgewählt haben wir Passagen in denen Bellocchio erzählt,

  • wie die Idee entstand, diese Geschichte zu verfilmen

Bellocchio sagt, er sei zufällig auf den Fall gestoßen, weil er ein Buch las, in dem die Geschichte erzählt wurde. Ein jüdisches Baby war erkrankt und heimlich von einem katholischen Hausmädchen notgetauft worden. Sechs Jahre später erzählte das Mädchen einem Inquisitor davon. 1858 gab es in Bologna noch die Römische Inquisition, denn Bologna gehörte zum Kirchenstaat. Die Inquisition, sprich der Papst, entschied dann, den Jungen zu entführen und nach Rom in ein Katechumenenhaus zu bringen, um einen Christen aus ihm zu machen. Die Geschichte habe ihn stark fasziniert und tief bewegt, und er habe erkannt, dass sich der Stoff für eine Verfilmung eigne. Dem ging kein politischer Gedanke voraus, kein Wunsch, die Kirche in irgendeiner Weise zu verurteilen. Doch im Film wird klar, dass die Kirche dem Kind Gewalt angetan hat, dass es eine echte Entführung war.

  • was den jungen Hauptdarsteller ausmacht

Der Junge, Enea Sala, habe keinen religiösen Hintergrund, er wurde weder getauft noch gefirmt. Doch er konnte den Schmerz seiner Figur sehr tief erfassen. Daran sei etwas Geheimnisvolles, das vielleicht in seiner Person verankert sei. Er konnte wirklich zu Edgardo werden, auch dank der hervorragenden Schauspielerinnen und Schauspieler, die mit ihm vor der Kamera standen: die Mutter, der Vater, der Papst, der Inquisitor und die anderen Kinder. Ganz sicher hätte dieser Film auch scheitern können, wenn der Junge nicht glaubwürdig gewesen wäre. Doch gerade der Junge sei zu einer der Stärken des Films geworden.

  • und wie er auf die Kritik der Film sei ein Angriff auf die katholische Kirche” reagiert hat. Bellocchio bezeichnet sich selbst, obwohl er aus einer streng-katholischen Familie in Piacenza stammt und von Barnabiten erzogen wurde, als Nicht-Gläubigen. 

Er habe den Film nicht gemacht, um jemanden zu kritisieren, sondern weil er die Geschichte erzählen wollte. Wenn jemand den Film sieht, könne daraus Kritik oder Polemik folgen. Aber das sei der zweite Schritt, es sei nicht sein Ziel gewesen. Er wolle mit dem Film weder die Kirche noch den Papst angreifen. Tatsächlich sei die katholische Kirche diesem Film mit großer Toleranz begegnet.

Anekdoten zum Film

Wir garnieren die Interviewauszüge mit Anekdoten, die wir selbst recherchiert haben bzw. von Bellocchio erfahren haben. (Hier ausführlicher als im Kinosaal und ergänzt.)

  • Etwa der Anekdote, dass zwei andere – amerikanische – Regisseure mit jüdischen Wurzeln schon vor Bellocchio an dem Thema dran waren. Gut möglich, dass in deren Fall der Film auch als Akt der Aggression gegen die katholische Kirche hätte gesehen werden können. Die Regisseure: Steven Spielberg der eine, Julian Schnabel der andere. Beide haben den Film nie realisiert. Spielberg hat etwa zehn Jahren an dem Projekt gearbeitet. Als Bellocchio dies erfuhr, stoppte er seine Arbeit. Als er einige Zeit später erfuhr, dass Spielberg das Filmprojekt „Mortara“ ad acta gelegt hat, nahm er das Thema wieder auf. Er fing damit an, woran Spielberg gescheitert war: Mit dem Casting des jungen Edgardo Mortara. Mit dem sechsjährigen Enea Sala aus Modena hat er ihn gefunden. Ein Junge ohne jegliche Schauspielerfahrung. Das Casting-Team hat gezielt in der Region um Bologna gesucht. Der Junge sollte genau den Tonfall, die Sprachmelodie dieser Gegend habe. Das war dem Team immens wichtig.

Obwohl er noch keine sieben Jahre alt war, sei sich der Junge seiner Verantwortung sehr bewusst gewesen. Er wollte wirklich gute Arbeit abliefern. Manchmal sei er mit seiner Leistung nicht zufrieden gewesen und bat darum, die Szene zu wiederholen. So etwas komme ziemlich selten vor. Er wollte seiner Figur, für seine Figur sein Bestes geben. Die Szenen, die den jungen Schauspieler am meisten bewegt hätten und die er auch etwas fürchtete, seien natürlich die Schlüsselszenen: mit der Mutter, mit dem Vater, die Entführung selbst. Da ging es ihm wie jedem Schauspieler, der weiß, dass es für seine Rolle besonders entscheidende Szenen gibt. Als ihn seine Mutter besucht und zu weinen beginnt, habe er seinen Schmerz, seine Sehnsucht ganz deutlich gezeigt. Die Kameraeinstellung spiele dann keine Rolle mehr, es liege alles in der Leistung des Schauspielers. Das Licht, die Kostüme, alles werde zweitrangig. Alles liege im Blick und in der Stimme, und das unterscheidet wirklich große Schauspieler von ihren Kollegen.

  • Oder die Anekdote, welche Recherchen Marco Bellocchio und Susanna Nicchiarelli, mit der er gemeinsam das Drehbuch schrieb, unternommen haben.

Sie hätten zahlreiche Bücher, Berichte jüdischer Autoren zu diesem Fall und Episoden aus Mortaras Autobiographie gelesen und verwertet. In Bologna und Rom hätten sie eine Reihe jüdischer und nicht-jüdischer Historiker zu diesem Fall interviewt.  Gespräche gab es auch mit anderen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde zum Fall und über die damals relativ häufigen Zwangstaufen. Sie hätten auch ein langes Gespräch mit Mortaras Urgroßnichte, Elèna Mortara, geführt.

In einem Interview mit il Resto di Carlino sagte Elèna Mortara, dass

die Entführung immer wie ein Geist über der Familie geschwebt habe und wenn Edgardo zu Besuch kam, hätten die Mütter ihre kleinen Kinder versteckt aus Angst, dass er sie zwangstaufe.

  • Eine weitere Anekdote ist die der Zusammenarbeit mit der jüdischen Gemeinde am Set. Im Team waren keine jüdischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Insofern waren während der Dreharbeiten stets jüdische Berater anwesend. Sie haben geholfen, die Bräuche, die Rituale und Gebete möglichst korrekt darzustellen.
  • Eine letzte Anekdote:

Auch David Kertzer, auf dessen Buch sich Steven Spielbergs geplante Verfilmung vor allem stützen sollte, habe den Film gesehen. Er habe ihn nicht kritisiert, aber er meinte, den Film habe nur ein Italiener so erzählen können, aus einer im besten Sinne melodramatischen Perspektive. Er fühlte sich sogar an Luchino Viscontis „Sehnsucht“ erinnert, sei also ein großer Kenner des Melodrams.

Drehorte

Gedreht wurde in Roccabianca (Provinz Parma). Hier an der Piazza Minozzi wurde das Haus der Mortara  im Stil des 19. Jahrhunderts nachgebaut.

    In Sabbioneta (Provinz Mantua) wurde in der Synagoge gedreht.

    Einige Räume des Palazzo d’Accursio, die Piazza Maggiore und Teile des historischen Zentrums in Bologna wurden für die historische Kulisse genutzt.

    In der barocken Kirche San Barnaba in Modena wurden einige Innenaufnahmen gedreht.

    Der Schlafsaal von San Pietro in Vincoli wurde im Herzen Roms – im Oratorio dei Filippini – wieder aufgebaut. Auch in den Gärten und Innenräumen des Palazzo Farnese wurde gedreht

    Die Bologna-Entführung. Geraubt im Namen des Papstes

    Nach der 20-minütigen Moderation geben wir die Bühne und Leinwand frei für „Die Bologna-Entführung. Geraubt im Namen des Papstes”.

    Nach dem Film bleiben noch einige Gäste im Kinosaal und unterhalten sich über den Film. Ich sammle ein paar O-Töne ein – nicht nur positive. Ein Freund hat den Saal schon während des Films verlassen, weil er als gläubiger Protestant, die Kirche an den Pranger gestellt sieht und den Film überflüssig findet, erzählt er mir einen Tag später. Ich kann ihn nicht davon überzeugen, dass man auch eine Kirche kritisieren darf. Kinobesitzer Javier Lozano findet, dass

    die Bologna Entführung ein wuchtiger und herzzerreißender Film ist, der einen unmittelbar in den Bann zieht. Die vielen Großaufnahmen des Jungen und seiner Eltern wirken noch lange nach Filmende nach. Ich bin sicher, er wird viele Menschen berühren.

    Mit einer Freundin diskutiere ich später, weshalb Bellocchio so vehement die Position vertritt, dass es sich um keinen Film gegen die Kirche handelt. Wir sehen den Film durchaus als berechtigte Kritik an der Kirche. Im Gegensatz zum oben erwähnten Freund finden wir, dass der Fall Mortara es wert ist, erzählt zu werden. Wir wünschen uns sogar noch einen zweiten Teil: Den Fall Edgardo Mortara geschildert aus der Sicht des älteren Bruders. Wie muss die Familie gelitten haben. Zerrissen zwischen ihrem jüdischen Glauben und der Liebe zum (verlorenen) Sohn. Wären sie zum katholischen Glauben übergetreten, hätten sie Edgardo sehen können, möglicherweise sogar zurückbekommen.

    Der Film kommt am 16. November in die deutschen Kinos. Ich kann mich den Worten Marco Bellocchios aus der Videobotschaft nur anschließen und dem Film viele, sehr viele Zuschauerinnen und Zuschauer wünschen. Der zweistündige Film ist fesselnd, aufwühlend, nicht ganz leicht, ob der Thematik, und absolut sehenswert.

    Einen kleinen Vorgeschmack gibt dieser Trailer.

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