
Immer wenn sich das Datum der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau nähert – Ende April 1945 –, denke ich nicht nur an die historischen Bilder oder die offiziellen Gedenkveranstaltungen. Ich denke an den Onkel meiner italienischen Freundin Carla. Oder genauer: an ihren Vater. Denn den Onkel habe ich nie kennengelernt. Den Vater hingegen schon.
Wenn Geschichte persönlich wird
Carlas Vater war Teil des katholischen Widerstands. In Italien gab es damals vor allem zwei Strömungen: den kommunistischen und den katholischen Widerstand. Ihr Onkel Enrico hingegen war Soldat im Krieg. Er wurde schwer verwundet, verlor ein Bein und wurde schließlich nach Hause geschickt.
Geschichte zweier Brüder
Eines Tages erfuhren die Faschisten, dass Carlas Vater im Widerstand war. Er erfuhr rechtzeitig davon, konnte fliehen und sich verstecken. Als die Nazis bei ihm zu Hause eintrafen fanden sie den Bruder vor. Sie nahmen ihn mit. Nach Dachau.
Ich selbst war bisher nur in einer Gedenkstätte eines ehemaligen Konzentrationslager – der Risiera di San Sabba in Triest. Schon dort überkam mich ein Gefühl der Beklemmung. Wenn ich mir vorstelle, wie Enrico – ohne Sprachkenntnisse, ohne Erklärung – nach Deutschland gebracht wurde, in ein Lager, in dem er vermutlich nie verstand, was mit ihm geschah … dann läuft es mir kalt den Rücken herunter. Über die genauen Umstände seines Todes weiß man nichts. Nur, dass er nicht mehr zurückkam.
Schuld, die bleibt
Seit ich diese Geschichte kenne, denke ich oft an den Vater und den Onkel. An seine Angst. An seine Hilflosigkeit. Daran, was es heißt, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Und daran, wie viele Lebensgeschichten einfach ausgelöscht wurden – still, ohne ein Wort, ohne einen Abschied.
Carlas Vater überlebte. Doch er hatte sein Leben lang Schuldgefühle. Die Schuld, dass sein Bruder an seiner Stelle gestorben war. Ich habe den Vater gekannt – einen ruhigen, freundlichen Mann. Er hätte Gründe gehabt, mir – als Deutsche – mit Vorbehalten zu begegnen. Hat er aber nie.
Brief des Mitgefühls
Was mir besonders im Gedächtnis geblieben ist: Als meine Schwester starb, schrieb er mir einen Brief. Ein einfacher, ehrlicher, mitfühlender Brief. Und heute, mit dem Wissen um seine Geschichte, lese ich diesen Brief mit anderen Augen: Verbunden im Schmerz um den Verlust eines Geschwisterteils.
Ironie des Schicksals: Einer meiner Großväter ist im Krieg im Italieneinsatz vermisst. Zwei Familien, zwei Länder, zwei Männer, ein Krieg – und doch ähnliche Verluste.
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