Ganz zufällig bin ich auf die Fondazione Pirelli HangarBicocca auf Instagram gestoßen und entdeckte die Ausstellung von Maurizio Cattelan. Mailand, Cattelan, Ausstellung zeitgenössische Kunst: Klar! Da muss ich hin. Wie gut, dass ich eh schon einen Mailand-Besuch geplant hatte.
Inhaltsverzeichnis
Ein Besuch im Pirelli HangarBicocca
Per BikeMi in die Vorstadt
Die Fondazione Pirelli HangarBicocca liegt etwas außerhalb des Stadtzentrums im angesagten neuen Kunst- und Wohnviertel Bicocca. Eine Gegend, die ich bisher noch nicht kannte, die aber wunderbar mit dem Fahrrad zu erreichen ist, sofern man gerne im Großstadt-Dschungel radelt, so wie ich (hier ausführlicher dazu).
Ich leihe mir also an einem spätsommerlichen Donnerstagvormittag ein BikeMi in der Nähe der Piazzale Loreto, und nach etwa dreißig Minuten bin ich auch schon da. Je näher ich dem Stadtviertel Bicocca allerdings komme, desto mehr denke ich, was für eine unschöne Gegend! Bicocca versprüht den (Nicht-)Charme einer typischen italienischen Vorstadt. Aber was soll’s. Ich bin ja nicht wegen der Gegend hier, sondern wegen eines Ausstellungshauses und vor allem einer – DER – Ausstellung – aber ein bisschen enttäuscht bin ich trotzdem.
Museum mit Wow-Effekt
Aktuell werden in der Fondazione Pirelli HangarBicocca zwei Ausstellungen gezeigt. Die dritte, die Dauerausstellung I Sette Palazzi Celesti von Anselm Kiefer, ist zurzeit geschlossen. Für den Besuch musste ich ein Zeitfenster buchen. Ich habe mich gleich für 10.30 Uhr entschieden – da öffnet das Haus – und bin mal wieder überpünktlich. Doch so habe ich Zeit, mich außerhalb noch etwas umzusehen. Es wird viel gebaut in dieser Gegend. Mit mir warten noch einige Andere vor dem riesigen Eisentor. In Gedanken schreibe ich schon meinen Blogbeitrag.
10.30 Uhr. Ein Geräusch unterbricht meine Gedanken, und das Tor öffnet sich. Ich zeige meinen Green Pass (Impfnachweis) vor, lass meine Temperatur messen und los geht‘s! Wow! Was für ein toller Ort! Was für eine schöne Umgebung! Was für ein gewaltiges Kunstwerk, das mich da sofort empfängt: La Sequenza von Fausto Melotti (1901 bis 1986), eine Eisenarbeit aus dem Jahr 1981, die majestätisch in den Himmel ragt zwischen sich im Wind bewegenden Gräsern. Und dann, gleich dahinter ist es auch schon: das Ausstellungsgebäude Pirelli HangarBicocca.
Ich betrete das Ziegelsteingebäude und befinde mich in einem großen cleanen Raum. Auf den ersten Blick erinnert nichts an Industriearchitektur, wie ich es bei dem Namen Hangar und der früheren Verwendung vermutet hätte. Man muss schon genau hinschauen.
La Fondazione Pirelli HangarBicocca
Die Fondazione Pirelli HangarBicocca wurde 2004 in Mailand als gemeinnützige Stiftung gegründet. Sie widmet sich der Produktion und Förderung zeitgenössischer Kunst. Eine alte Industrieanlage für den Bau von Lokomotiven wurde zum Ausstellungsgebäude.
Mit 15 000 Quadratmetern verfügt es über einen der größten horizontalen Ausstellungsräume in Europa. Jedes Jahr wird in Einzelausstellungen italienische und internationale Kunst gezeigt.
Im Gebäude befinden sich ein Bereich für öffentliche Dienstleistungen und Bildungsaktivitäten sowie drei Ausstellungsräume. In den Ausstellungsräumen blieben die ursprünglichen architektonischen Merkmale aus dem letzten Jahrhundert erhalten: lo Shed (Schuppen), le Navate (Langhaus) und il Cubo (Würfel). In einem der Räume befindet sich das permanente Werk von Anselm Kiefer, I Sette Palazzi Celesti, 2004 bis 2015. Im Shed und im Cubo werden Wechselausstellungen gezeigt.
Von Digital Mourning zu Breath Ghosts Blind
Um die Kunstwerke von Cattelan, Breath Ghosts Blind, zu bewundern, schlendere ich zunächst durch die temporäre Ausstellung Digital Mourning des französisch-algerischen Künstlers Neïl Beloufa. Ich bleibe nicht allzu lange, denn die Installationen, vor allem die Videos, sprechen mich nicht wirklich an – generell mag ich Videoinstallationen nicht soooo gerne. Außerdem bin ich neugierig, was mich in den Navate erwartet.
Schließlich stehe ich vor einem schwarzen Vorhang, schiebe ihn beiseite und trete ein … Wow! Eine große dunkle Fabrikhalle. Stille. Und dort, ganz am Ende, sehe ich das erste Kunstwerk: Breath. Zunächst ist es nur ein kleines Etwas, das auf dem Boden liegt. Es strahlt in hellem leuchtendem Weiß. Ein Lichtstrahl setzt es in Szene.
Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Die Industriearchitektur ist hier sichtbar: Betonböden, hohe Decken, Stahlkonstruktionen. Mein Blick schweift durch den Raum nach oben und ich sehe das zweite Kunstwerk – Ghosts. Yeah! Hier bin ich richtig! Das ist meine Ausstellung!
Ausstellung in drei Akten
Die Ausstellung Breath Ghosts Blind von Maurizio Cattelan ist eine Ausstellung in drei Akten: Breath (Atem) – Ghosts (Geister/Gespenster) – Blind (Blind). Drei steht für Einheit und Vollkommenheit in Anlehnung an die religiöse Vorstellung der Dreifaltigkeit. Das Thema tauchte bereits in einer Ausstellung im MMK, Museum für Moderne Kunst Frankfurt, auf, wo unter anderem seine Arbeit Ave Maria gezeigt wurde.
1. Breath
Ein Mann in Fötusstellung und ein Hund aus weißem Carrara-Marmor liegen sich zugewandt nah beieinander auf dem Boden. Man spürt ein starkes Band zwischen ihnen. Würden sie nicht schlafen, würde einer den anderen ansehen.
Ich frage mich, wer wohl zuerst eingeschlafen ist. Wer bewacht wen? Was haben sie wohl gemacht, dass sie so müde waren, dass der Mann nicht einmal seine Mütze abnehmen konnte? Ich glaube ja, dass der Mann zuerst eingeschlafen ist. Und treu, wie der Hund ist, hat er sich neben ihn gelegt. Viele Gedanken, viele Fragen.
Die Dunkelheit um mich herum, lässt mich unweigerlich an den Tod denken. Es ist aber auch die perfekte Umgebung, um sich vollkommen auf sich selbst und auf die Werke zu konzentrieren. Ich hole schon mal das Smartphone aus der Tasche und fange an, den Blogbeitrag zu schreiben. – Ich bin von der Inszenierung absolut angetan.
Die Stille und der Marmor vermitteln etwas Sakrales. Ich erinnere mich an die Werkgruppe All, die ich 2008 im Kunsthaus Bregenz gesehen habe. Neun Körper/Leichen, mit einem Tuch vollkommen bedeckt, komplett aus Marmor. Ich sehe die Statuen auf dem Cimitero Monumentale in Mailand oder die Skulpturen in der Villa Borghese in Rom und von Michelangelo in Florenz vor mir.
2. Ghosts
Tausende von Tauben „sitzen„ auf den Stahlträgern des Gebäudes. Mal einzeln, mal in Gruppen blicken sie unbeteiligt auf mich herab. Beobachten sie mich? Richten sie sich gegen mich? Wer weiß … Bei der Biennale di Venezia 2011 gab es im Padiglione Centrale eine ähnliche Installation von Cattelan. Ich denke an den Overtourism in Venedig, an technische Neuerungen, generell ans Beobachtet-werden.
3. Blind
Ich durchquere das Gebäude und gehe auf den Cubo zu. Ich sehe zunächst nur einen schwarzen Monolith. Je näher ich komme, desto mehr erkenne ich. Im Cubo entdecke ich zuerst die Spitze eines Flugzeugs, das aus dem Monolithen herausragt, dann seine Flügel und danach, als ich es mit meinem Blick und meinem Körper umrunde, auch das Heck.
Mein erster Gedanke: Blind ist eine Anspielung auf 9/11. Ich liege richtig, sagt mir das Begleitheft. Und ein zweiter Gedanke kommt mir noch: Will Blind uns auch daran erinnern, den Blick nicht zu senken, nicht wegzusehen angesichts der Probleme und Tragödien in der Welt?
Schön und inspirierend
Nach anderthalb Stunden verlasse ich das Ausstellungshaus. Draußen empfängt mich ein strahlend blauer Himmel, Sonnenschein und ein bezaubernder Innenhof mit einem Bistro. Weil’s drin so schön war, und ich voller neuer Ideen und Anregegungen bin, beschließe ich noch ein bisschen zu bleiben. Es ist Mittagszeit, und nicht nur ich komme auf die Idee, hier zu essen. Einige Angestellte aus den umliegenden Büros und der Fondazione Pirelli HangarBicocca genießen mit mir das schöne Wetter und die tolle Atmosphäre. Ich schreibe an der italienischen Version des Blogbeitrags weiter, gönne mir eine leckere Pasta und ein Glas Wein. Schön! Einfach nur schön!
Zum Schluss kann ich es dann doch nicht lassen und gehe noch einmal zurück. In der Museumsbuchhandlung kaufe ich mir das Buch „Maurizio Cattelan, L’autobiografia non autorizzata“ von Francesco Bonani (Maurizio Cattelan, Die unautorisierte Autobiografie). Das Buch hat mich die nächsten Tage begleitet und bestens unterhalten. Cattelans Kunst wurde mir nochmal nähergebracht, und ich habe oft gelacht.
Infos
Pirelli HangarBicocca, Via Chiese 2, 20126, Milano
Öffnungszeiten Ausstellungshalle: Donnerstag bis Sonntag, 10.30 – 20.30 Uhr
Iuta Bistrot: Dienstag und Mittwoch, 11.00 – 15.00 Uhr, Donnerstag bis Sonntag, 10.30 – 22.30 Uhr
Eintritt frei
Die Ausstellung von Maurizio Cattelan wird noch bis 20. Februar 2022 gezeigt, die von Niël Beloufa bis zum 9. Januar 2022.
Fünf Stunden später, und ich sitze wieder auf einem BikeMi und radle beseelt nach Hause. Im Garten lasse ich den Tag noch einmal Revue passieren und feile weiter am italienischen Blogpost.
Es waren inspirierende Stunden. Der perfekte Tag! Wenn du mal nach Mailand kommst, dann nix wie dorthin. Ich werde den Pirelli HangarBicocca ab jetzt im Blick haben, wenn ich meine Mailand-Besuche plane. Ein sehr empfehlenswerter Ort!
Bitte vergiss nicht, wenn du die Ausstellung besuchst, eine Spende dazulassen. Der Eintritt ist frei. Zusätzlich zu den Ausstellungen bietet die Pirelli HangarBicocca auch ein reichhaltiges Bildungsprogramm für Kinder an.
Update Juli 2024: Im Kunstpodcast „Augen zu“ von ZEIT und ZEIT online mit Giovanni di Lorenzo und Florian Illies geht es in der Juli-Ausgabe um Maurizio Cattelan. Reinhören lohnt sich! Nicht nur für diese Folge.
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