
Wir treffen uns in der Deutsch-Italienischen Vereinigung in Frankfurt, ein Ort, der für dieses Gespräch nicht besser hätte passen können. Umgeben von italienischer Kunst, warmem Licht und dem Geruch nach Espresso sprechen wir über eine Schriftstellerin, die sich zwischen römischen Gassen, Frankfurter Trümmern, italienischen Lamdschaften und gesellschaftlichem Wandel bewegte – und deren Werk heute fast in Vergessenheit geraten ist. Die Rede ist von der Schriftstellerin und Dichterin Marie Luise Kaschnitz, die eine der bedeutendsten Stimmen der deutschen Nachkriegsliteratur ist.
Inhaltsverzeichnis
Marie Luise Kaschnitz: Leben und Beziehung zu Italien
Geboren 1901 in Karlsruhe, gestorben 1974 in Rom, prägte sie mit Lyrik, Kurzprosa und Hörspielen die Literaturgeschichte. Ihr Mann, der Archäologe Guido Kaschnitz, arbeitete am Deutschen Archäologischen Institut in Rom – deshalb verbrachte sie bereits in den 1920er Jahren sowie erneut von 1952 bis 1956 prägende Jahre in der Ewigen Stadt.
Viele ihrer Werke, darunter „Liebe beginnt“, „Engelsbrücke“ (1955) und „Meine acht römischen Wohnungen“ (1963), spiegeln ihre enge Beziehung zu Italien und besonders zu Rom wider. Heute gilt Kaschnitz als vergessene deutsche Autorin, deren Texte zwischen Trümmerliteratur, Frauenemanzipation und literarischen Reisebeobachtungen faszinierende Einblicke geben.
Ein Gespräch mit Juliane Ziegler über „Herzlandschaft“
„Ich weiß gar nicht mehr, ob ich je etwas von Kaschnitz gelesen habe – in der Schule vielleicht? Jedenfalls nicht bewusst.“ So beginnt mein Gespräch mit Juliane Ziegler, Journalistin bei der ARD-Audiothek, Literaturwissenschaftlerin – und inzwischen auch Autorin eines Buches über Marie Luise Kaschnitz. „Herzlandschaft. Marie Luise Kaschnitz und Italien“* heißt es, erschienen im Verlag Ebersbach & Simon, und es widmet sich dem Italienkapitel in Leben und Werk der Autorin.
Was bleibt von dieser Stimme, die sich so leise wie hartnäckig in die Literaturgeschichte eingeschrieben hat?
Zugang zu den italienischen Werken von Marie Luise Kaschnitz
Juliane, was hat dich bewegt, ein Buch über Kaschnitz in Italien zu schreiben?
Ein ganzes Buch zu schreiben, das hatte ich erstmal gar nicht vor. Ich bin Journalistin und Literaturwissenschaftlerin, und hatte zunächst an einem Radiofeature über Marie Luise Kaschnitz gearbeitet. Dabei habe ich entdeckt, welche große Rolle Italien in ihrem Leben gespielt hat – dort hat sie sich zur Schriftstellerin entwickelt, sie hat sich inspirieren lassen, Italien und Rom tauchen häufig in ihrem Werk auf. Kaschnitz sagte immer, Rom sei eine ihrer drei Heimaten.
Ich habe selbst einige Zeit in Italien gelebt, in Siena und Rom, und dieser Aspekt hat mich sehr interessiert. Ich blieb an der Recherche dran, war zum Beispiel mehrmals im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, wo Kaschnitz’ Nachlass liegt, in Rom in der Casa di Goethe, wo ich ein Forschungsstipendium hatte, und ich habe noch Zeitzeugen interviewen können. Und irgendwann hatte ich so viel interessantes Material, dass daraus ein Buch werden musste.
Hinzu kam: Marie Luise Kaschnitz war eine wichtige Stimme im Nachkriegsdeutschland. Sie ist aber völlig aus dem Fokus verschwunden, jüngere Leser*innen kennen sie kaum noch. Das hat verschiedene Gründe und ist ziemlich schade: Ihr Werk ist wirklich umfangreich und es gibt sehr viel zu entdecken!
Wie bekommt man Zugang zu den (italienischen) Werken von Marie Luise Kaschnitz?
Ein guter Einstieg ist „Engelsbrücke“ – eine Sammlung von 170 kurzen Texten, die Marie Luise Kaschnitz Mitte der 1950er Jahre während ihres zweiten längeren Aufenthalts in Italien geschrieben hat. Es sind Essays und Beobachtungen, in denen sie das Leben in Rom beschreibt, den Alltag, Familienszenen beobachtet, auch die traditionellen Rollenmuster. Feinfühlig, neugierig und mit genauem Blick zeichnet sie ein Bild vom Italien jener Zeit. Ihre Liebe zum Land wird in diesen Texten deutlich, gleichzeitig ihr Sinn fürs Atmosphärische. Dazwischen reflektiert sie das Schriftstellerleben und Gedanken zur Nachkriegs-Gegenwart.
Gerade erst wurde „Engelsbrücke“ auch auf Italienisch übersetzt: Ponte Sant’Angelo – Osservazioni romane* di Marie Luise Kaschnitz, übersetzt und herausgegeben von Giuliano Lozzi (Del Vecchio Editore, Mai 2025).
Ein weiterer Tipp ist ihr Roman „Liebe beginnt“. In Italien begonnen, erschien er in Deutschland 1933 und verkaufte sich nicht sehr gut. Dafür gab es mehrere Gründe – ein zu dieser Zeit mutiger Inhalt, ein jüdischer Verlag, der Zeitpunkt des Erscheinens. Kaschnitz schloss daraus, dass ihr die längere Form, der Roman, nicht lag und erwähnte ihn später kaum noch. Die ausführliche Geschichte hinter „Liebe beginnt“ beschreibe ich in meinem Buch. Ich finde den Roman durchaus interessant – unter anderem, weil man viel von ihr und ihrem Mann, dem Archäologen Guido darin erkennt. Es geht um Emanzipation innerhalb einer Beziehung und die Geschichte spielt im Italien unter Mussolini.
Ich persönlich mag ihre Kurzgeschichten wie „Das dicke Kind“* oder „Ferngespräche“*: Viel Zwischenmenschliches, einiges Autobiografisches und auch magische Elemente erwarten die Leser*innen da. Und für Lyrikleser*innen ist sie sowieso eine Entdeckung.
Marie Luise Kaschnitz: Werk, Zeit und Kontext
Marie Luise Kaschnitz hat vor allem Lyrik, Kurzprosa und Hörspiele geschrieben. War das in den 1950ern und 1960ern typisch?
Kaschnitz lesen – wo anfangen?
Für Italien-Liebhaber*innen:
„Engelsbrücke“ (1955): literarische Miniaturen über italienisches Leben
„Meine acht römischen Wohnungen“ (1963): biografisch gefärbte Erinnerungen an das Rom der 1920er bis1950er Jahre
Für Leser*innen persönlicher Prosa:
„Das dicke Kind“* (1951): Kindheit, Identität, Selbstbild
„Ferngespräche“* (1966): Familienkomödie in Telefonszenen
„Eisbären“* (1972): abgründige, dichte Erzählkunst
Für Fortgeschrittene:
„Liebe beginnt“ (1933): früher Roman über eine Frau, die sich befreit – heute neu zu entdecken (nur noch antiquarisch erhältlich)
Ja, gerade die Hörspiele waren damals ein großes Medium. Auch Ingeborg Bachmann, Günter Eich oder Wolfgang Koeppen haben in dieser Zeit viele Hörspiele geschrieben – das Radio war ein Ort für literarische Experimente und natürlich eine weitere Verdienst-Möglichkeit. International bekannt geworden ist Kaschnitz aber vor allem als „Trümmerdichterin“: Sie ist während des Zweiten Weltkrieges nach Frankfurt gezogen und hat die Eindrücke der völlig zerstörten Stadt in Lyrik verarbeitet.
Hatte Marie Luise Kaschnitz Kontakt zu italienischen Autor*innen zum Beispiel zu Natalia Ginzburg, Sibilla Aleramo oder Alberto Moravia?
In den 1950er Jahren war Kaschnitz Teil eines deutschsprachigen Freundeskreises, der kaum Kontakt zu Italiener*innen suchte. Schriftsteller*innen und Kulturschaffende kamen hier zusammen, etwa Gustav René Hocke, Herman Kesten, Dieter Sattler oder Reinhard Raffalt.
Durch ihren Mann Guido, der in dieser Zeit das nach dem Zweiten Weltkrieg wieder eröffnete Deutsche Archäologische Institut leitete, hatte sie auch engen Kontakt mit Mitarbeitenden der anderen Kulturinstitute.
Aber Kontakt zu italienischen Autor*innen hat sie meines Wissens nicht aktiv gesucht oder gepflegt.
Eine ihrer engsten Freundinnen in Italien war Ingeborg Bachmann, die sich stärker mit Kolleg*innen vor Ort vernetzt hat. Über sie entstand auch der Kontakt zu Marguerite Caetani, die die internationale Literaturzeitschrift „Botteghe Oscure“ herausgab. Beide, Kaschnitz und Bachmann, haben für dieses Magazin geschrieben.
Du schreibst, dass ihr Werk stark durch Rom und Italien geprägt sei. Woran machst du das fest?
Inhaltlich wird das sehr deutlich: Viele ihrer Gedichte und Kurzgeschichten spielen in Italien, besonders in Rom. Italien war für sie eine große Inspirationsquelle. Als sie 1924 nach Rom gezogen ist, hat sich ihr eine völlig neue Welt eröffnet und sie hatte durch ihren Mann und seinen Freundeskreis aus Geschichtswissenschaftlern, Archäologen und Kunsthistorikern einen ganz besonderen Zugang zu Italien. Diese Begeisterung ist in ihren frühen Gedichten herauszulesen.

Dann, als sie nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in die Ewige Stadt kam, war Kaschnitz fast irritiert davon, dass ein Großteil Roms, wie sie es kannte, noch bestand, während Deutschland in Schutt und Asche lag. Später beschreibt sie in ihren Texten die starken Veränderungen in Italien: den Tourismus, Umweltzerstörung, wie sich das Stadtbild Roms entwickelt.
Poetische Beobachtungen: Autobiografie und künstlerische Selbstwahrnehmung
Kaschnitz sah sich selbst als eine, die die Augen offenhält und beschreibt – als „ewige Autobiografin“, weil ihre Erfindungsgabe gering sei. Teilst du diese Wahrnehmung?
Viele ihrer Texte sind stark autobiografisch geprägt, das merkt man, wenn man sich ein wenig mit ihrer Kindheit und ihrem Leben beschäftigt. In „Das Haus der Kindheit“ etwa verarbeitet sie sehr deutlich Erinnerungen an ihre jungen Jahre. Auch in vielen Gedichten oder Kurzgeschichten tauchen wiederholt Themen auf, die sich biografisch zurückverfolgen lassen – Familienverhältnisse, Orte, Verluste. In vielen Kurzgeschichten – „Das dicke Kind“* ist ein gutes Beispiel – gibt es etwas Traumartiges, fast Magisches. Am Ende dieser Geschichte erkennt die Erzählerin, dass das nervige Kind, das sie besucht, eigentlich sie selbst ist.
Also würdest du sagen, sie war mehr als „nur“ eine genaue Beobachterin?
Ja, unbedingt. Auch wenn sie sich selbst als wenig erfinderisch beschrieben hat, hat sie auf keinen Fall rein dokumentarisch gearbeitet. Es ging ihr nicht nur um das, was ist, sondern um das, was dahinter liegt. Deshalb finde ich die Selbstbeschreibung als „ewige Autobiografin“ einerseits nachvollziehbar, weil ihre eigenen Erfahrungen ihr häufig den Stoff lieferten, mit dem sie sich beschäftigte. Andererseits greift sie auch zu kurz. Gerade weil Kaschnitz so genau hingeschaut hat – in sich selbst und in die Welt – ist etwas Eigenes entstanden. Zwischen Erinnerung und Imagination.
Persönlichkeit und Sympathie: Nähe zur Autorin
Wie findest du Kaschnitz? Ist sie dir sympathisch geworden? Hast du beim Recherchieren eine Beziehung zu ihr aufgebaut?
Das Bild, das ich durch ihre Tagebuchaufzeichnungen, ihre Korrespondenzen und durch das, was mir Zeitzeug*innen noch über sie erzählen konnten, war sie mir zumindest eher sympathisch als unsympathisch. Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, Distanz zu wahren. Sie ist nicht unbedingt als Komikerin bekannt geworden, aber ich mag ihren Humor, der immer wieder durchkommt – lakonisch, zurückhaltend, spitzfindig. Kaschnitz konnte sehr gut beobachten, was um sie herum geschieht, und hatte einen Sinn für die feinen Töne. Was bei der Recherche auch auffiel: Sie scheint eine große Netzwerkerin gewesen zu sein und es hat ihr Freude bereitet, verschiedene Menschen zusammen zu bringen.
Du hast erwähnt, dass Marie Luise Kaschnitz mit ihren Italienischkenntnissen nicht zufrieden war.
Es gibt einen Brief aus den Fünfziger Jahren, in dem sie ihrer Tochter vom Sprachunterricht berichtet, und dass die Italienisch-Lehrerin ihre Aussprache bemängelt habe. Sie hat ja in den Zwanziger Jahren eine Zeitlang in Rom gelebt und ist danach regelmäßig nach Italien gefahren. Insofern hat sie sicherlich recht gut Italienisch gesprochen. In ihrem Nachlass gibt es auch einige Korrespondenzen auf Italienisch. Dass dann die Italienisch-Lehrerin ihre Aussprache kritisiert hat – das hat sie ein wenig gekränkt: „Ich spreche alle Vokale zu offen, es scheint, dass die meisten chiusi sind. Außerdem soll man viel mehr überziehen, ganze Sätze sollen klingen wie ein langes Wort, und dabei soll es doch artikuliert und klein sein – es ist zum Verzweifeln“, schrieb sie ihrer Tochter.
Auf den Spuren von Marie Luise Kaschnitz in Rom
Welche Spuren gibt es noch in Rom von Marie Luise Kaschnitz?
In „Meine acht römischen Wohnungen“ beschreibt sie alle Orte, an denen sie im Laufe der Jahre gewohnt hat – vom kalten Kämmerchen in den 1920ern über die Unterkunft in einem Palazzo aus dem Mittelalter bis hin zur Villa Massimo, wo sie in späten Jahren ein Stipendium hatte. Viele dieser Gebäude existieren noch. In einigen ihrer Arbeiten benennt sie konkrete Plätze, Straßen, Kirchen – etwa die Piazza del Popolo oder die Via di Ripetta. Diese Orte lassen sich gut aufsuchen. Ihre Tochter, Iris Schnebel-Kaschnitz, hat ein Sammlung ihrer Rom-Texte herausgegeben: „Mit Marie Luise Kaschnitz durch Rom“*. Es gibt jedoch keine konkreten Kaschnitz-Erinnerungsorte in Rom.
Und unterwegs ein Maritozzo, ein süßes Milchbrötchen, essen …
(Juliane lacht) Ich weiß nicht, ob sie Maritozzi wirklich gerne gegessen hat, sie erwähnt aber, dass sie welche in einem nahe gelegenen Geschäft gekauft hat. Vielleicht mochte sie sie, vielleicht auch ihr Mann Guido.
Als Mailand-Liebhaberin muss ich natürlich abschließend fragen: Kaschnitz hat mit ihrem Mann ganz Italien bereist – Was ist mit Mailand?
Ja, sie hat Guido häufig begleitet, gemeinsam waren sie in ganz Italien unterwegs: in Neapel und Pompeji, an der Amalfiküste, in Venedig, auf Sizilien. Viele Reisen hingen mit dem Beruf ihres Mannes als Archäologe zusammen. Mailand erwähnt sie zwar in ihren Tagebüchern, ich habe aber keine Angaben dazu, was sie dort konkret unternommen hat.
Könnte man sich auf ihren Spuren durch Rom bewegen?
Absolut. Ihre Tochter hat ein kleines Buch zusammengestellt: „Mit Marie Luise Kaschnitz durch Rom“*, mit Texten, die alle in Rom oder Italien spielen.
Kaschnitz selbst hat eine wunderbare Erzählung geschrieben: „Meine acht römischen Wohnungen“. Darin beschreibt sie die Orte, an denen sie gewohnt hat – vom kalten Kämmerchen in den 1920ern bis zur Wohnung mit ihrem Mann im Deutschen Archäologischen Institut. Viele dieser Gebäude existieren noch und sie nennt konkrete Plätze, Straßen, Kirchen – etwa die Piazza del Popolo oder das Kolosseum. Eine literarische Stadtführung wäre auf jeden Fall denkbar.
Fazit: Warum Marie Luise Kaschnitz heute neu entdeckt werden sollte

Marie Luise Kaschnitz war nicht nur eine prägende Stimme der deutschen Nachkriegsliteratur, sondern auch eine Autorin mit starkem Bezug zu Rom und Italien. Sie hat in Italien prägende Jahre verbracht und literarisch verarbeitet. Ihre Gedichte, Romane und Essays eröffnen Leser*innen bis heute den Blick auf ein Italien zwischen Alltag und Ewigkeit. Für Literatur- und Italienliebhaber*innen lohnt sich eine Wiederentdeckung ihres Werks – und vielleicht auch eine Reise auf ihren Spuren durch Rom.
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Danke, liebe Juliane, für dieses überaus spannende Gespräch und deine Zeit!
Ich hoffe, dir, liebe Leserin, lieber Leser hat das Interview auch gefallen! Über deine Meinung in den Kommentaren freue ich mich sehr.
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Eduard Kopp meint
Das ist so spannend zu lesen und informativ. Vielen Dank für die Einblicke und für die kurzweilige Lektüre.
Ulrike meint
Freut mich, dass dir das Interview gefallen hat!